Ein-Jahr-und-100-Tage-Bilanz der Ampel zur Armutsbekämpfung – und ein Blick darüber hinaus

Verschriftlichter Beitrag, den ich bei der Armutsbekämpfungskonferenz des Bundesverbandes Netzwerke von Migrant*innenorganisationen (BV NeMO) in Zusammenarbeit mit dem Kölner Verbund der Migrantenorganisationen KVMO e.V. mündlich gehalten habe:

Wolfgang Strengmann-Kuhn, Bundestagsabgeordneter, Bündnis 90/ Die Grünen

In Deutschland gibt es seit über 15 Jahren ein sehr hohes Armutsniveau. Die Armutsquote liegt bei über 15% – im Verhältnis zu den Jahrzehnten davor ist das ein Rekordniveau. Mit Armut ist gemeint, dass Menschen nicht die Mittel haben, um an dem üblichen Lebensstandard in einem Land teilhaben können. Das wird üblicherweise als relative Armut bezeichnet. Darüber hinaus gibt es in Deutschland aber auch extreme Armut, z.B. von Menschen, die keine Wohnung haben und auf der Straße leben.

Ziel sollte nicht nur sein, Armut zu reduzieren, sondern möglichst ganz abzuschaffen. Das ist in einem reichen Land wie Deutschland auch möglich. Um dieses Ziel, die Beseitigung der Armut, zu erreichen, ist es notwendig, auch über eine gerechtere Verteilung des vorhandenen Reichtums und eine höhere Besteuerung von hohen Einkommen und Vermögen zu reden. Da die Ampel sich darauf verständigt hat, keine Steuern zu erhöhen, sind die aktuell die finanziellen Mittel zur Armutsbekämpfung allerdings begrenzt. Trotzdem hat die Ampel aber auch in Bezug auf die Armutsbekämpfung einiges erreicht und hat sich darüber hinaus auch noch einiges vorgenommen.

Eine der ersten Maßnahmen der Ampel-Koalition war eine deutliche Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro. Das war in Bezug auf Armutsvermeidung deswegen wichtig, weil es bis dahin nicht garantiert war, dass eine vollzeiterwerbstätige Person netto einen Lohn über dem eigenen Existenzminimum hat. Ziel des Mindestlohns sollte sein, dass er so hoch ist, dass eine Person, die alleinstehend ist und Vollzeit arbeitet, nicht arm wird. Das wurde mit der Anhebung des Mindestlohns erreicht. Das reicht aber noch nicht. Erstens sollte für Erwerbstätige der Lohn nicht nur ein bisschen über der Armutsgrenze liegen. Deshalb hat sich die Regierungskoalition vorgenommen, die Tarifbindung zu stärken, insbesondere durch ein Tariftreuegesetz, bei dem Vergaben des Bundes an die Einhaltung von Tarifverträgen gebunden ist. Zweitens reichen hohe Löhne alleine noch nicht zur Armutsvermeidung aus, weil er  nämlich dann nicht vor Armut schützt, wenn nicht Vollzeit gearbeitet wird und/oder Kinder bzw. andere Familienangehörige mitversorgt werden müssen.

Hier braucht es weitere Maßnahmen, vor allem eine stabile Grundsicherung. Hier hat sich die Ampel vorgenommen, die bisherige „Grundsicherung für Arbeitsuchende“ (im Volksmund „Hartz IV“ genannt) zu ersetzen. Die neue Grundsicherung heißt seit Anfang des Jahres Bürgergeld. Ziel des Bürgergelds ist vor allem ein anderer Umgang der Jobcenter mit den Menschen, die finanzielle Unterstützung brauchen. Das Bürgergeld setzt auf Kooperation und eine vertrauensvolle Zusammenarbeit auf Augenhöhe, bei der die Wünsche der Menschen eine größere Rolle spielen. Statt schnelle Vermittlung in den Arbeitsmarkt soll es nachhaltige Unterstützung, insbesondere durch eine stärkere Förderung von Qualifikation und Weiterbildung geben. Neben diesen strukturellen Veränderungen wäre es auch notwendig gewesen, die Leistungen, die so genannten Regelsätze, anzuheben. Bündnis 90/ Die Grünen haben sich dafür eingesetzt, es war aber in der Ampel-Koalition nicht durchsetzbar. Immerhin gab es einen besseren Ausgleich für die Inflation als das vorher geplant war. Darüber hinaus gibt es beim Bürgergeld für einzelne Gruppen mehr Geld. So gibt es in Phasen von Weiterbildung, bei der ein Abschluss angestrebt wird, ein Weiterbildungsgeld von 150 Euro monatlich, das zusätzlich zum Bürgergeld gezahlt wird. Auch Erwerbstätige, die Bürgergeld erhalten, haben bis zu 50 Euro mehr Geld, weil das eigene Einkommen nicht mehr so stark angerechnet wird wie bei „Hartz IV“, wenn sie mehr als geringfügig arbeiten. Last but not least hat die Ampelkoalition für Kinder die Leistung bereits seit Juli letzten Jahres um 20 Euro pro Monat angehoben („Kindersofortzuschlag“).

Bereits in diesem Jahr ist ein zweites Bürgergeld-Gesetz geplant. Dabei geht es um eine weitere Verbesserung bei den Maßnahmen zur Unterstützung für Menschen, die Arbeit suchen. Darüber hinaus geht es um bessere Leistungen für Erwerbstätige. Es ist wichtig zu betonen, dass nicht alle, die Bürgergeld beziehen, arbeitslos sind. Tatsächlich ist das sogar weniger als die Hälfte aller Beziehenden. Von denen, die Bürgergeld erhalten, sind mehr Menschen erwerbstätig als langzeitarbeitslos. Wie beschrieben, wurde für diese Gruppe die Anrechnung von Einkommen schon im ersten Bürgergeldgesetz verbessert. Im zweiten Bürgergeldgesetz soll die Anrechnung von Einkommen zusätzlich verbessert und gerechter gestaltet werden, denn heute wird bei Einkommen über 1000 Euro das eigene Einkommen zu 90% oder sogar vollständig angerechnet werden. Das will die Ampel ändern und damit die Einkommen von erwerbstätigen Armen verbessern. Davon werden vor allem Alleinerziehende und Selbständige profitieren und so besser vor Armut geschützt.

Das größte sozialpolitische Projekt der Ampelkoalition ist die Kindergrundsicherung. Jedes fünfte Kind in Deutschland lebt in Armut. Diese Zahl ist seit Jahren weitgehend konstant. Deswegen ist ein Ziel der Kindergrundsicherung, Kinderarmut zu verringern. Das ist aber nicht das einzige Ziel: Es geht insgesamt darum, Kinder besser zu unterstützen und die finanzielle Unterstützung von Familien gerechter zu gestalten. So ist es in Deutschland so, dass Menschen mit höherem Einkommen mehr Geld vom Staat bekommen als mit mittleren Einkommen. Wichtig ist, dass die Leistungen bei denen ankommen, die sie brauchen. Das ist in Deutschland nicht der Fall. Deswegen ist ein zentraler Ansatz der Kindergrundsicherung das System zu vereinfachen, zu entbürokratisieren und von der Holschuld der Betroffenen zu einer Bringschuld des Staates zu kommen. Bisher beziehen teilweise nur ein Drittel der Anspruchsberechtigten die ihnen zustehenden Leistungen. Durch die Kindergrundsicherung soll das auf möglichst 100% steigen. Viele arme Kinder haben zumindest einen Elternteil, der erwerbstätig ist, und gerade bei dieser Gruppe ist die Inanspruchnahme der Leistungen sehr gering. Das kann aus Scham sein. Es kann sein, dass die bürokratischen Hürden für die Antragstellung zu hoch sind. Zu einem großen Teil kennen viele gar nicht die Leistungen oder wissen nicht, dass sie als Erwerbstätige einen Anspruch haben. Schon dadurch, dass diese Menschen die finanzielle Unterstützung bekommen, die ihnen zustehet, lässt sich die Kinderarmut verringern. Darüber hinaus reicht die bisherige Höhe der Leistungen nicht aus. Die Ampel-Koalition hat sich deswegen vorgenommen, das Existenzminimum von Kindern neu zu berechnen und zu erhöhen. Mit dem Kindersofortzuschlag gab es bereits einen ersten Schritt der Erhöhung.

Ein weiteres Projekt der Ampel ist die Überwindung von Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit bis 2030. Dazu soll es einen Nationalen Aktionsplan geben, der zusammen mit Ländern, Kommunen, aber auch in Kooperation mit Verbänden und Betroffenen-Organisationen erstellt werden soll. Das Bundesministerium für Wohnen wird noch in diesem Jahr mit einem Prozess zur Erstellung des Aktionsplans beginnen, um dieses ambitionierte Ziel zu erreichen. Ein wichtiger Baustein dafür ist der so genannte „Housing First“-Ansatz, bei dem möglichst allen Obdachlosen eine Wohnung angeboten werden soll.

Die Ampel-Koalition hat schon einiges gegen Armut auf den Weg gebracht und noch einiges geplant. Reicht das aus? Mitnichten! Denn das sind nur erste Schritte, die nach der nächsten Bundestagswahl fortgesetzt werden müssen.

Was ist noch zu tun, um Armut nachhaltig zu verringern?

Erstens müssen die finanziellen Leistungen so hoch sein, dass sie auch wirklich vor Armut schützen. Der Regelsatz der Grundsicherung muss dazu neu berechnet und deutlich erhöht werden. Derzeit wird der Regelsatz durch verschiedene Rechentricks künstlich klein gerechnet und müsste eigentlich mindestens 150 bis 200 Euro pro Monat höher sein.

Zweitens müssen alle, die eine finanzielle Grundsicherung brauchen auch einen Anspruch darauf haben. Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass eine existenzsichernde Grundsicherung ein Grundrecht und Menschenrecht ist. Trotzdem erhalten Geflüchtete eine Leistung nach dem so genannten Asylbewerber-Leistungs-Gesetz (AsylbLG), die noch unter der Leistung beim Bürgergeld liegt. Unter anderem deswegen setzen sich Bündnis 90/ Die Grünen dafür ein, dass das AsylbLG abgeschafft wird und Geflüchtete ebenfalls einen Anspruch auf Bürgergeld erhalten. Das Beispiel der Geflüchteten aus der Ukraine hat gezeigt, wie sinnvoll das ist. Menschen, die aus dem EU-Ausland nach Deutschland kommen und hier nach Arbeit suchen, können sogar ganz von Grundsicherung ausgeschlossen werden. Wer aus dem EU-Ausland kommt und erwerbstätig ist, hat übrigens von Anfang an einen Anspruch auf Bürgergeld, wenn das Einkommen zu niedrig ist. Ich finde, das sollte für alle gelten, die hier leben. 

Drittens muss die Unterstützung auch bei den Menschen, die es brauchen, ankommen. Es wird geschätzt, dass ein Drittel bis die Hälfte der Anspruchsberechtigten keine Grundsicherung bezieht (so genannte „verdeckt Arme“). Da es sich dabei um ein Grundrecht handelt, ist nach meinem Dafürhalten der Staat in der Verantwortung, die Hürden für die Inanspruchnahme abzubauen. Wie bei der Kindergrundsicherung geplant, sollte der Staat auch bei Erwachsenen eine Bringschuld haben, um die Existenzsicherung zu garantieren. Die einfachste Möglichkeit dafür wäre die Auszahlung eines Grundeinkommens an alle, die dauerhaft in Deutschland leben.

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