Antrag | Ein Zukunftsprogramm gegen Armut – Armut bekämpfen, Teilhabe garantieren, Chancen und Zusammenhalt stärken

Der Antrag als PDF: Zukunftsprogramm gegen Armut

Anlässlich des 6. Armuts- und Reichtumsberichtes hat die Bundestagsfraktion am 08.06.2021 den Antrag „Ein Zukunftsprogramm gegen Armut“ beschlossen

Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Deutschland ist ein reiches Land, in dem es den meisten Menschen gut geht. Trotzdem gibt es seit Jahrzehnten eine soziale Schieflage, sowohl bei der Einkommens als auch bei der Vermögensverteilung, welche die Armut und Ungleichheit verfestigt. Die Pandemie hat die Situation ärmerer Bevölkerungsgruppen zudem weiter verschlechtert. Durch sie haben immer mehr Menschen in den niedrigsten Einkommensgruppen Probleme, laufende Ausgaben zu decken. Die Armutsrisikoquote ein wissenschaftlich anerkannter Messwert zur Darstellung der Einkommensungleichheit stagniert seit vielen Jahren auf einem zu hohen Niveau zwischen 15 und 16 Prozent und das trotz der wirtschaftlich generell positiven Entwicklung der vergangenen Jahre. Von Armut sind über 12 Millionen Menschen betroffen. Ein wesentliches Problem ist, dass untere Einkommensbereiche kaum einen Zuwachs ihres Realeinkommens zu verzeichnen hatten Die Vermögen sind noch deutlich ungleicher verteilt als die Einkommen. Haushalte in der oberen Hälfte der Verteilung besitzen 97,5 Prozent der Gesamtvermögen. Die unteren 10 Prozent der Bevölkerung sind verschuldet.

Auch wenn die Auswirkungen der Krise noch nicht abschließend beurteilt werden können, ist zu erwarten, dass die Corona-Pandemie Ungleichheiten weiter verschärft: Das Infektionsrisiko war in ärmeren Bevölkerungsgruppen viel stärker ausgeprägt und Kinder in bildungsfernen Familien hatten schlechtere Möglichkeiten, sich den Lernstoff im Homeschooling anzueignen. Und das gilt auch generell: Nach wie vor hat die Einkommenssituation einen großen Einfluss auf die Aufstiegschancen bzw. die soziale Mobilität. Kinder und Jugendliche, die in Armut aufwachsen, haben höhere Gesundheitsrisiken. Arme Menschen sterben in Deutschland früher als wohlhabende. Und die Klimakrise wirkt sich zusätzlich negativ auf die Gesundheit aus, besonders bei Menschen in prekären Situationen, schlechtem Wohnumfeld, in aufgeheizten Städten, bei hoher Luftbelastung. Aber auch unabhängig von der Corona-Pandemie haben wir als Gesellschaft in den kommenden Jahren Umwälzungen zu bewältigen, die wir mit den richtigen Maßnahmen auch als Chance begreifen und wahrnehmen können. Der demographische Wandel, die Digitalisierung in der Arbeitswelt, die Bewältigung der Klimakrise und der Weg der Wirtschaft in die Klimaneutralität. Wir stehen als Gesellschaft vor großen Herausforderungen, die wir nur gemeinsam und mit einem Staat bewältigen können, dem die Bürger*innen ihr Vertrauen schenken.

Der nun vorgelegte 6. Armuts- und Reichtumsbericht zeigt auf, dass die bisher getroffenen Maßnahmen nicht ausreichend greifen, um verfestigte und verdeckte Armut langfristig zu beseitigen und dass unsere sozialen Sicherungssysteme und arbeits und wirtschaftspolitischen Instrumente besser werden müssen.

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

  1. die Grundsicherung zu einer sanktionsfreien Garantiesicherung weiterzuentwickeln, die das soziokulturelle Existenzminimum garantiert sowie gesellschaftliche Teilhabe sicherstellt. So können Menschen in Zeiten des Wandels gestärkt werden und Chancen sowie Perspektiven für ein selbstbestimmtes Leben entstehen. Dazu ist der Regelsatz neu zu ermitteln sowie schrittweise auf ein existenzsicherndes Niveau anzuheben, Sanktionen abzuschaffen, die Leistungen für Nichtverheiratete zu individualisieren, die Vermögensprüfung durch eine rechtsverbindliche Selbstauskunft zu ersetzen und die Hinzuverdienstmöglichkeiten zu verbessern.
  2. eine Kindergrundsicherung einzuführen, die Kindern ein Aufwachsen ohne Armut ermöglicht und ihre Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellt. Sie soll sich an ihren realen Bedarfen orientieren und automatisch ohne kompliziertes Antragsverfahren ausgezahlt werden. In der Kindergrundsicherung werden das Kindergeld, der Kinderzuschlag, das Sozialgeld für Kinder und die Bedarfe für Bildung und Teilhabe zusammengefasst. Mit der Kindergrundsicherung bekommt jedes Kind einen festen GarantieBetrag, Kinder in Familien mit geringen oder gar keinem Einkommen bekommen zusätzlich noch einen GarantiePlusBetrag. Je niedriger das Familieneinkommen, desto höher der GarantiePlusBetrag. Die bisherigen Leistungen für Bildung und Teilhabe sollen Kinder künftig viel einfacher erhalten.
  3. für gute Arbeitsbedingungen und anständige Löhne zu sorgen. Dafür braucht es u.a. eine höhere Tarifbindung, mehr Mitbestimmung und einen Mindestlohn von 12€ pro Stunde. Bei Leiharbeit ist gleicher Lohn ab dem ersten Arbeitstag sowie ein Flexibilitätsbonus zu zahlen, sachgrundlose Befristung ist abzuschaffen und Arbeit auf Abruf ist auf ein notwendiges Minimum zu begrenzen. Benachteiligungen von Frauen auf dem Arbeitsmarkt müssen beseitigt werden, dafür wird u.a. ein Entgeltgleichheitsgesetz mit Verbandsklagerecht und verpflichtender Lohntransparenz eingeführt.
  4. die Arbeitslosenversicherung zu einer Arbeitsversicherung weiter zu entwickeln, die Qualifizierung in den Mittelpunkt stellt, sowie die Absicherung von abhängig und selbständig Erwerbstätigten zu verbessern, indem der Zugang zum Arbeitslosengeld I erleichtert wird. Hierzu wird bereits ab vier Monaten sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung ein Anspruch auf Arbeitslosengeld I eingeführt und der Zugang zur freiwilligen Arbeitslosenversicherung für alle Selbständigen geöffnet. Zudem gilt es, alle Erwerbstätigen besser bei der Weiterbildung zu unterstützen und sie so für den Arbeitsmarkt der Zukunft zu wappnen. Bei arbeitsmarktbedingter Weiterbildung wird ein Weiterbildungsgeld eingeführt, das 200 Euro höher ist als das Arbeitslosengeld I bzw. Arbeitslosengeld II. Ein neues, eng an die Sozialpartnerschaft gekoppeltes QualifizierungsKurzarbeitergeld unterstützt Unternehmen und Beschäftige im ökologischen Transformationswandel.
  5. allen den Zugang in einen inklusiven Arbeitsmarkt zu eröffnen. Das gilt insbesondere für Langzeitarbeitslose und Menschen mit Behinderungen, die bessere Beratung, Förderung und Qualifizierung benötigen. Dazu soll ein Rechtsanspruch auf Qualifizierung eingeführt, der Betreuungs und Personalschlüssel in Jobcentern verbessert, der soziale Arbeitsmarkt entfristet und zugänglicher gestaltet werden. Ein Wechsel in den allgemeinen Arbeitsmarkt soll auch für Beschäftigte in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen leichter werden. Wir wollen das heutige Werkstattsystem zu einem System von Inklusionsunternehmen weiterentwickeln, in dem Menschen mit Behinderungen über die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung mindestens auf Mindestlohnniveau ermöglicht wird.
  6. sicherzustellen, dass alle Menschen vor Altersarmut geschützt sind und ein gutes, selbstbestimmtes Leben im Alter führen können. Konkret heißt das: Das gesetzliche Rentenniveau mussdauerhaft auf heutigem Niveau stabilisiert; die gesetzliche Rentenversicherung schrittweise zu einer Bürgerversicherung, die u.a. nicht anderweitig abgesicherte Selbständige einbezieht, umgebaut; eine arbeitgeberfinanzierte Mindestbeitragsbemessungsgrundlage für Geringverdiener*innen eingeführt; die Grundrente zu einer Garantierente weiterentwickelt und Erwerbsminderungsrentner*innen über einen Zuschlag besser unterstützt werden.
  7. mit besserer Unterstützung bei Ausbildung, Bildung und Weiterbildung Chancen für alle zu stärken. Mit einer Ausbildungsgarantie, damit junge Menschen auch unter schwierigen Bedingungen den Start ins Berufsleben gut meistern können. Mit einer Grundsicherung für Studierende und Auszubildende, die über das Bafög hinaus für alle ein Studium finanzierbar macht. Mit einem Rechtsanspruch auf Weiterbildung, der mit einem Freistellungsanspruch und einer finanziellen Absicherung verbunden wird. Außerdem soll gemeinsam mit Ländern und Kommunen für gut ausgestattete Kitas, Schulen, berufliche Schulen, eine starke Jugendhilfe und moderne Hochschulen gesorgt werden, um allen Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen beste Startbedingungen in ein selbstbestimmtes Leben ohne Armut zu ermöglichen.
  8. eine gute Gesundheitsversorgung für alle zu ermöglichen, indem das Krankenversicherungssystem schrittweise zu einer Bürgerversicherung weiterentwickelt wird, in der alle Bürger*innen unabhängig vom Einkommen verlässlich abgesichert und versorgt sind. Prävention und Gesundheitsförderung müssen zur Sicherung guter Gesundheitschancen besonders für armutsgefährdete Menschen einen höheren Stellenwert bekommen. Der Zugang zu gesundheitlicher Versorgung von vulnerablen und marginalisierten Gruppen wie Geflüchteten, Personen ohne Obdach oder Leistungsberechtigten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ist stets zu gewährleisten.
  9. die Versorgung in der Pflege sowie die soziale Absicherung von Pflegenden zu verbessern, indem die Pflegeversicherung zu einer solidarischen und generationengerechten PflegeBürgerversicherung weiterentwickelt und die PflegeZeitPlus eingeführt wird.
  10. Wohnungsnot zu beseitigen und Menschen, die sich in Ballungsräumen kaum eine Wohnung leisten können, besser zu unterstützen. Dazu ist der soziale Wohnungsbau stärker zu fördern, die Wohngemeinnützigkeit wieder einzuführen, die Mietpreisbremse zu einem effektiven Instrument weiter zu entwickeln, das Wohngeld und die Rahmenbedingungen für die Kosten der Unterkunft zu verbessern.
  11. durch ein nationales Aktionsprogramm gemeinsam mit den Ländern und Kommunen Wohnungs und Obdachlosigkeit zu verhindern und bekämpfen. Dabei ist der Housing-First-Ansatz ein zentraler Baustein. Alle Menschen brauchen angemessenen Wohnraum, deshalb bedarf es eines Rechts auf Wohnen im Grundgesetz.
  12. Mobilität für alle Menschen, insbesondere Menschen mit niedrigem Einkommen sowie Personen mit Mobilitätseinschränkungen, zu ermöglichen, um so Teilhabechancen deutlich zu verbessern. Hierfür wird der Zugang zur Mobilität für alle Menschen durch ein barrierefreies, attraktives und verlässliches Nahverkehrsangebot garantiert und der Rad und Fußverkehr deutlich stärker gefördert, um im ganzen Land ein flächendeckendes Netz sicherer Radweg und Abstellmöglichkeiten zu schaffen. Ein Mobilpass gewährleistet transparente, einfache und soziale Tarife.
  13. die gewachsene Ungleichheit bei Vermögen und Einkommen abzumildern, indem der Kampf gegen Steuervermeidung und Steuerbetrug verstärkt wird, kleine und mittlere Einkommen, insbesondere durch die Erhöhung des Grundfreibetrags, entlastet und im Gegenzug der Spitzensteuersatz für sehr hohe Einkommen moderat angehoben wird. Die Abgeltungssteuer wird abgeschafft und dadurch Kapitaleinkommen wieder progressiv besteuert. Eine Finanztransaktionssteuer wird eingeführt und große Vermögen nach der CoronaKrise wieder stärker besteuert. Ein mögliches Instrument dafür ist eine neue Vermögenssteuer für die Länder, die für die Finanzierung der wachsenden Bildungsaufgaben eingesetzt wird.
  14. bei der Erstellung des 7. Armuts- und Reichtumsberichts Menschen mit Armutserfahrung stärker miteinzubeziehen und zu beteiligen, die soziale Infrastruktur bei der Wirkweise der Armutsprävention stärker zu beleuchten, die gesundheitlichen Folgen von Klimakrise und Umweltzerstörung für arme Menschen erörtern, Schlussfolgerungen aus den wissenschaftlichen Erkenntnissen in Form von sozialpolitischen Maßnahmen und Konsequenzen, sowohl von der Bundesregierung als auch vom Beratergremium, in eigenen Kapiteln festzuhalten, um dann im darauffolgenden Armuts- und Reichtumsbericht zu beschreiben und zu erklären, ob diese umgesetzt wurden oder nicht.

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