Gastbeitrag | Freizügigkeit braucht soziale Sicherheit
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Am 29.01.2016 erschien in dem Fachblatt „epd Sozial“ Ausgabe 4/2016 ein Gastbeitrag von Wolfgang Strengmann-Kuhn. Die Antwort auf Olaf Scholz und anderen Gedanken zur Beschränkung der Freizügigkeit und der sozialen Absicherung unserer EU-MitbürgerInnen lesen sie hier:
Die Zukunft Europas ist momentan so ungewiss wie nie zuvor: Grexit, Brexit, Finanz-, Schulden- und Flüchtlingskrise, und in vielen Ländern haben nationalistisch denkende oder europaskeptische Parteien Aufwind. Überall, so scheint es, bröckelt es in der Europäischen Union und Risse entstehen. Diese Entwicklung ist durchaus beunruhigend, denn es steht viel auf dem Spiel. Die Europäische Union hatte einst die Vision von einer sie tragenden demokratischen und sozialen Wertegemeinschaft. Mehr Freiheit und mehr Wohlstand für Alle war kein leeres Versprechen. Es entstand nach und nach ein stetig wachsender Verbund, der genau diese Werte dauerhaft stärken sollte: eine Wirtschafts- und Währungsunion in der Reisefreiheit, Freizügigkeit und andere Errungenschaften in einem demokratischen Rahmen weiterentwickelt und ausgebaut wurden. Hiervon profitieren zweifelsohne wir alle. Die nun herrschenden, scheinbar systembedrohenden Krisen, rütteln aber immer mehr an diesem Wertefundament. Der britische Premier David Cameron droht mit einem Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union, dem so genannten Brexit, und verhandelt mit der EU unter anderem über eine Beschränkung des Zugangs von Unionsbürger*innen zu Mindestsicherungssystemen in anderen Ländern der Europäischen Union. Dafür bekommt er Unterstützung von der CSU, auf deren Klausur in Wildbad Kreuth er Anfang Januar zu Gast war – und neuerdings auch aus der SPD.
Olaf Scholz (SPD), Erster Bürgermeister von Hamburg, konkretisierte in einem Gastbeitrag in der Welt vom 11. Januar seinen Vorschlag, der den Forderungen von Cameron stark entgegen kommt. Danach sollen Unionsbürger*innen in einem anderen Mitgliedsstaat von der Grundsicherung ausgeschlossen werden, sofern sie nicht ein Jahr lang durchgängig Vollzeit erwerbstätig waren. Dieser Vorschlag ist europa- wie sozialpolitisch verfehlt. Er ist bürokratisch und diskriminierend und würde den Praxistest nicht bestehen. Er grenzt Teilzeiterwerbstätige, also vor allem Frauen, und Selbständige aus. Er begrenzt die Freizügigkeit und setzt Hürden, die auch ökonomisch verfehlt sind. Nicht zuletzt verstößt der Vorschlag gegen das Grundrecht auf Existenzsicherung, das das Bundesverfassungsgericht aus dem Grundgesetz herleitet.
Gesetzgeberischer Handlungsbedarf besteht aber durchaus. Der Europäische Gerichtshof hat vor kurzem in einem Urteil festgestellt, dass der Ausschluss von Unionsbürger*innen aus einem anderen Land, die in Deutschland Arbeit suchen, vom Bezug von Arbeitslosengeld II („Hartz IV“) europarechtlich (!) nicht zu beanstanden ist. Damit ist die rechtliche Debatte aber nicht beendet, denn im Dezember gab es ein Urteil des Bundessozialgerichts, in dem es sich auf das Grundrecht auf Existenzsicherung bezieht. Einerseits sei demnach zwar der Ausschluss vom Arbeitslosengeld II rechtens, andererseits stellte das Gericht ebenfalls fest, dass ein Bezug von Sozialhilfe nach dem Sozialgesetzbuch XII möglich sei.
Damit wird zwar dem Grundrecht auf Existenzsicherung entsprochen, es ist aber nur eine Notlösung, die aus zwei Gründen problematisch ist. Erstens handelt es sich bei der Sozialhilfe um eine Leistung, die eigentlich nicht für Arbeitslose, sondern für (vorrübergehend) Erwerbsunfähige gedacht ist, zweitens wird die Sozialhilfe vollständig von den Kommunen finanziert und würde diese unnötig stark belasten. Letzteres sieht auch die Bundessozialministerin Andrea Nahles so und hat einen Gesetzentwurf angekündigt, mit dem der Bezug von Sozialhilfe eingeschränkt werden soll, vermutlich in Richtung der Forderungen der CSU und von Olaf Scholz.
Wir finden hingegen, dass die Freizügigkeit in Europa auch sozial abgesichert werden muss. Unionsbürger*innen, die einem anderen Land aktiv nach Arbeit suchen und eine Chance haben, eingestellt zu werden, haben nach dem europäischen Freizügigkeitsrecht einen rechtmäßigen Aufenthalt. Diese Gruppe sollte dann auch staatliche Unterstützung bei der Eingliederung in den Arbeitsmarkt erhalten. Wir fordern deswegen für diese Gruppe einen Zugang zum Arbeitslosengeld II, wenn sie länger als drei Monate in Deutschland leben. Das Arbeitslosengeld II wird im Gegensatz zur Sozialhilfe überwiegend vom Bund bezahlt und über das Jobcenter erhalten die Betroffenen die notwendige Unterstützung, um möglichst bald eine Arbeit zu erhalten. Ohne diese Unterstützung sind soziale Probleme die Folge, die letztlich die Kommunen ausbaden müssen. Der Zugang zum Arbeitslosengeld II ist also sowohl sozialpolitisch als auch für die Kommunen die beste Lösung.
Auch auf europäischer Ebene besteht Handlungsbedarf. So ist es wichtig, dafür zu sorgen, dass es in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union Grundsicherungssysteme gibt, die eine ausreichende Existenzsicherung schaffen, damit die Menschen nicht nur aus materieller Not in ein anderes Land umziehen müssen. Mittelfristig sollte es eine Europäisierung von Sozialleistungen geben, die eine Basisabsicherung, zumindest für ausgewählte Gruppen, z.B. ein europäisches Kindergeld, schaffen. Nationale Leistungen sollen dadurch nicht ersetzt, sondern ergänzt werden. Der soziale Zusammenhalt in Europa würde gestärkt und der Debatte über eine angebliche „Einwanderung in die Sozialsysteme“ der Wind aus den Segeln genommen. Die pauschale Unterstellung des Sozialmissbrauchs, der übrigens empirisch nicht belegt ist, hemmt und zerstört langfristig das, was wir innerhalb der Europäischen Union erreicht haben und weiter ausbauen möchten: ein soziales Europa gemeinsamer Werte, in dem Freizügigkeit herrscht, die für alle gilt.
Statt wie Cameron, Scholz und die CSU neue Hürden in Europa errichten und Sozialleistungen einzuschränken zu wollen und damit nationalistisches Gedankengut zu bedienen, brauchen wir die Vision einer sozialen Europäischen Union, in der sich alle frei bewegen können und in der alle, egal wo sie leben, sozial abgesichert sind.