Gastbeitrag | Grundsicherung – eine notwendige Voraussetzung für Integration

Im Heft 6/2015 der Zeitschrift „Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit“ erschien ein Artikel von Wolfgang Strengmann-Kuhn, Sprecher für Sozialpolitik der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Informationen zum Heft und den darin enthaltenen Beiträgen gibt es hier

Jeden Tag passieren derzeit Tausende Flüchtlinge die Außengrenze der EU. Dadurch droht aus dem Blick zu geraten, sich auch mit der anhaltenden Wanderungsbewegung innerhalb der EU sowie den daraus erwachsenden Folgen und den damit verbundenen Herausforderungen, insbesondere dem Zugang zu Sozialleistungen, zu beschäftigen.

Schon vor zwei Jahren hat der Städtetag darauf aufmerksam gemacht, dass Städte und Kommunen stärkere Unterstützung bei der Integration und Versorgung von Menschen brauchen,die aus anderen EU-Staaten zu uns nach Deutschland kommen. Insbesondere die zunehmende Zahl von Menschen aus Bulgarien und Rumänien, die bei uns leben und arbeiten wollten, standen damals im Fokus (Deutscher Städtetag 2013).Eine wichtige grundsätzliche Frage, die die Gemüter der Befürworter/innen und Gegner/innen stets aufs Neue erhitzt: Haben Unionsbürger/innen, die zu uns kommen, einen Anspruch auf existenzsichernde Grundsicherung?

Die Frage hat eine rechtliche Dimension, ist aber natürlich auch und vor allem eine politische Frage. Auf der einenSeite hat insbesondere die CSU die Diskussiongenutzt, um eine Hetz- und Neidkampagnegegen angeblichen Sozialmissbrauchzu fahren. Soviel die CSU auch Stimmung gemacht hat – bewahrheitet haben sich die Horrorszenarien nicht einmal ansatzweise. Selbst die bayerische Staatsregierung konnte keine Belege für nennenswerten Sozialleistungsmissbrauch beibringen. Das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung in Nürnberg untersucht monatlich die Auswirkungen der vollen Öffnung des Arbeitsmarktes für Menschen aus Rumänien und Bulgarien. Die gewonnene Erkenntnis ist klar: Die Menschen, die aus diesen, aber auch anderen europäischen Ländern zu uns kommen, sind sehr oft überdurchschnittlich gut ausgebildet. Von „Einwanderung in die Sozialsysteme“ als Massenphänomen kann folglich keine Rede sein(zu den aktuellen Zahlen Brücker/Hauptmann/Vallizadeh 2015).

Nun, alles im Lot? Auch das wäre nur die halbe Wahrheit. Die Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien konzentriert sich besonders in einigen häufig nicht sehr finanzstarken Kommunen, die schon aufgrund der großen Zahl immer noch vor großen Herausforderungen stehen. Der Städtetag hat übrigens in seinem bereits zitierten Papier schon auf das Problem der fehlenden (!) sozialen Sicherung hingewiesen. Das gilt insbesondere für die, die weniger gut qualifiziert sind. Manche von ihnen fliehen aus Armut, andere werden gezielt angeworben und beschäftigt, aber eben teilweise auch in sehr prekären Arbeitsverhältnissen, in einigen Fällen illegal, unterhalb des Mindestlohns oder als Scheinselbstständige bzw. Scheinwerkvertragsarbeiter/innen. Anders gesagt, die Migrantinnen und Migranten und ihre Unkenntnis der deutschen Sprache sowie des deutschen Arbeitsrechts werden von einzelnen Unternehmen (oder auch von Vermieterinnen und Vermietern) ausgenutzt. Aus diesem Grund gibt es zu Recht eine Beratungsstruktur wie beispielsweise „Faire Mobilität“. Auch die AWO und andere Träger bieten entsprechende Beratungen an. Oft scheitert diese leider aber schon daran, dass solche Angebote nicht hinreichend bekannt sind, und dennoch übersteigt die Nachfrage nach entsprechender Beratungsleistung regelmäßig schon eben jene geringen Kapazitäten. Hier besteht dringender Handlungsbedarf, entsprechende Bundesmittelmüssen umgehend aufgestockt werden.

Ebenso braucht es eine Ausweitung der Kapazitäten für Sprach- und Integrationskurse. Nur so kann die Integration der zu uns kommenden Menschen in unsere Gesellschaft und echte Teilhabe gelingen, auch für jene, die es hierbei aufgrund ihrer Qualifikation schwerer haben. Hierfür ist aber nach unserem Dafür halten auch eine finanzielle Grundsicherung dringend gebotene Voraussetzung. Nach der Einführung von Hartz IV durch Rot-Grün wurden Ausländer/innen, die bei uns leben, mit Einheimischen gleichgestellt. Das hat die große Koalition 2006 geändert – auf massiven Druck der CSU, damals vor dem Hintergrund der EU-Erweiterung um 10 Mitgliedstaaten. Schon seinerzeit übrigens mit einer ähnlichen Kampagne, und auch damals haben sich die Befürchtungen nicht bewahrheitet. Seitdem heißt es im Gesetz, dass „Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen“ vom Bezug der Grundsicherung für Arbeitsuchende ausgeschlossen sind. Dieser Ausschluss ist rechtlich umstritten.

Zur Klarstellung: Grundsätzlich dürfen Unionsbürger/innen, die in Deutschland arbeiten oder gearbeitet haben, hier nicht anders behandelt werden als Deutsche. Wenn in einer sogenannten Bedarfsgemeinschaft nur eine Person beschäftigt ist, so haben –bereits heute und unstrittig – die Familienangehörigen Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung. Dafür genügt auch eine geringfügige Beschäftigung, selbst ein Monatslohn von 200 Euro wird bereits als ausreichend anerkannt, um den Erwerbstätigenstatusaufrechtzuerhalten. Das gilt auch für Selbstständige. Dieser Status als Erwerbstätige bleibt auch bei einer anschließenden Arbeitslosigkeit bestehen. Rechtlich umstritten ist die Frage, ob Menschen Arbeitslosengeld II beziehen dürfen, die noch nie oder nur kurze Zeit bei uns gearbeitet haben, aber bei uns arbeiten möchten. Nach Europäischem Recht können Unionsbürger/innen, die Arbeit suchen, in den ersten drei Monaten von Grundsicherungsleistungen ausgeschlossen werden. Strittig ist die Zeit, die über die drei Monatehinausgeht. Der Europäische Gerichtshof(EuGH) hat zu dieser Frage im September 2015 anhand des Falls Alimanovic ein problematisches Urteil gefällt: Sogar für Unionsbürger/innen, die aktiv nach Arbeit suchen und Chancen auf eine Einstellung haben, ist ein Ausschluss vom Arbeitslosengeld II demnach europarechtlich möglich.

Rechtlich umstritten und relevant ist allerdings in diesem Zusammenhang noch die Frage, ob ein solcher Ausschluss nicht gegen das Grundgesetzverstößt. Dies liegt daran, dass das Bundesverfassungsgericht aus Art. 1 und Art. 20 des Grundgesetzes ein Grundrecht und Menschenrecht auf Existenzsicherung für alle Menschen, die in Deutschland leben, herleitet. Diese rechtlichen Fragen geben allerdings immer nur den Rahmen an. Deswegen wird die politische Debatte auch nachdem EuGH-Urteil fortgesetzt werden. Für die politische Bewertung ist zu betonen, dass eine erfolgreiche Arbeitsuche –insbesondere in einer fremden Umgebung, wo häufig auch einen neue Sprache gelernt werden muss – Zeit brauchen kann.

Für diese Zeit halten wir als Grünen-Fraktion es für wichtig, dass der Lebensunterhalt gesichert ist. Daher plädieren wir dafür, ab dem vierten Monat arbeitsuchenden Unionsbürgerinnen und -bürgern grundsätzlich den Zugang zu Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende zu gewähren – unter den gleichen Bedingungen wie Einheimischen. Dabei gelten für sie selbstverständlich dann auch dieselben Rechte und Pflichten wie für alle anderen. Sie haben einerseits Zugang zu Maßnahmen – wenn nötig auch zu weiteren Sprachkursen –, andererseits wird mit ihnen genauso wie bei Einheimischen eine Eingliederungsvereinbarung geschlossen. Wir sind überzeugt, dass die Menschen, die bei uns Arbeit suchen, auch unterstützt werden müssen. Nur wenn festgestellt wird, dass sich eine Person nicht um Arbeit bemüht oder trotz aller Unterstützung keine Aussicht besteht, einen Arbeitsplatz zu bekommen, können die Leistungen verweigert werden.

Nach unserer Auffassung gehört es in einem sozialen Europa dazu, dass wir Menschen, die hier leben und arbeiten wollen, dabei unterstützen, Teil der Gesellschaft zu werden. Das unterscheidet unseren inklusiven Ansatz von der Abschottungspolitik der derzeitigen Bundesregierung. Es braucht aber auch Änderungen auf europäischer Ebene. Es würde den immer wieder hochkochenden populistischen Stimmungen den Wind aus den Segeln nehmen, wenn das Wohlstandsgefälle – welches tatsächlich in der EU zuletzt wieder gewachsen ist – deutlich geringer wäre. Wir setzen uns dafür ein, dass es in allen Mitgliedstaaten der EU eine angemessene Grundsicherung gibt, die in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich ausgestaltet ist. Es gibt sogar Länder ganz ohne Grundsicherung, andere haben nur eine Grundsicherung auf sehr niedrigem Niveau. Dies kann durch eine Zielvereinbarung unter den Mitgliedstaaten erreicht werden, in der festgelegt wird, dass alle Länder eine existenzsichernde Grundsicherung einführen. Natürlich ist es notwendig, dabei auf die unterschiedlichen Lebensstandards Rücksicht zu nehmen. Eine Orientierung an relativen Kriterien, wie zum Beispiel ein bestimmter Prozentsatz des jeweiligen nationalen Durchschnittseinkommens, wäre hier eine Möglichkeit. Noch besser als eine Zielvereinbarung wäre es – und dafür setzen wir uns auch im Europäischen Parlament ein –, wenn es eine Mindesteinkommensrichtlinie gäbe, in der die Mindeststandards geregelt werden, welche dann in jedem Mitgliedstaat der EU umzusetzen sind.

Literatur:
Brücker, H./Hauptmann, A. /Vallizadeh, E. 2015: Zuwanderungsmonitor  Bulgarien  und Rumänien, 

Deutscher Städtetag 2013: Positionspapier des Deut-schen Städtetages zu den Fragen der Zuwanderung aus Rumänien und Bulgarien.

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