Persönliche Erklärung | Warum ich dem Gesetz zur Triage nicht zustimmen konnte

„Die Bilder aus Bergamo“ von nächtlichen Militärkonvois, die Leichen in Krematorien transportierten, sind Teil unseres kollektiven Gedächtnisses geworden. Im März 2020, als sich die meisten von uns von der Corona-Pandemie noch nicht betroffen fühlten, veränderten diese Aufnahmen schockartig unser Bewusstsein: Das Sterben wird auch uns erreichen. Werden dann auch wir in die Situation kommen, alte und behinderte Menschen gar nicht erst zu behandeln? Das schien undenkbar angesichts unseres Grundgesetzes und der darin zentral verankerten Menschenwürde und Gleichwertigkeit allen menschlichen Lebens.

Heute wissen wir, dass dort, wo in der zweiten Corona-Welle im Winter 2020/21 die Inzidenzen besonders hoch waren, eine „graue Triage“ stattgefunden hat: An Corona erkrankte Bewohner*innen von Pflegeheimen wurden teilweise nicht mehr im Krankenhaus behandelt. Karl Lauterbach sagte dazu in der ZDF-Sendung „maybrit illner“ (14.1.2021): „Wenn wir wie in der ersten Welle die Menschen aus den Pflegeeinrichtungen noch alle auf die Intensivstationen bringen würden, dann wären die Intensivstation schon längst überlaufen.“ Der Alarm oder mindestens eine ernsthafte Debatte darüber sind bis heute ausgeblieben. Wir finden das besorgniserregend.

Im Sommer 2020 reichten neun behinderte und chronisch kranke Menschen Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ein, weil sie befürchteten, im Fall einer Triage wegen ihrer Behinderung oder Vorerkrankung nicht intensivmedizinisch behandelt zu werden. Der Gesetzgeber müsse seiner Schutzpflicht nachkommen und gesetzliche Regeln erlassen, um sicherzustellen dass Menschen mit Behinderungen in einem Triage-Fall nicht benachteiligt werden. Das BVerfG ist den Beschwerdeführer*innen weitgehend gefolgt und verpflichtete den Gesetzgeber, geeignete Vorkehrungen zu treffen (Beschl. v. 16.12.2021, Az. 1 BvR 1541/20).

Machen wir uns nichts vor: Die Entscheidung, wer das letzte Intensivbett oder Beatmungsgerät bekommt, wenn es mehrere Patient*innen dringend brauchen, ist in jedem Fall grausam. Eine Chance auf Zuteilung der knappen Ressource bekommen grundsätzlich nur diejenigen, die mit einiger Wahrscheinlichkeit überleben könnten. Im Rahmen dieses unausweichlichen Dilemmas ist es aber entscheidend, dass ein Verfahren gewählt wird, das allen, die überleben könnten, die gleichberechtigte Chance auf Zugang zur überlebensnotwendigen Therapie sichert.

Der Gesetzentwurf, den das Parlament heute abschließend berät und abstimmt, erfüllt das aus unserer Sicht nicht. Vorgesehen ist darin, dass knappe intensivmedizinische Behandlungskapazitäten anhand des Kriteriums der „aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit“ zugeteilt werden. Menschenleben sollen also anhand einer Wahrscheinlichkeit bewertet werden. So sichert das Kriterium das Überleben der „fittesten“ Personen und benachteiligt systematisch „schwächere“ Personen wie alte und Menschen mit Behinderungen. Erst recht, da völlig unklar und im Gesetzentwurf nicht geregelt ist, auf welcher Grundlage die aktuellen und kurzfristigen Erfolgsaussichten bestimmt werden sollen.

Wie hochproblematisch das Entscheidungskriterium „aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit“ ist, wird besser verständlich, wenn man die Debatte um die „Ex-Post-Triage“ (Abbruch der intensivmedizinischen Behandlung eines Patienten zugunsten eines anderen mit besseren Überlebenschancen.), die im Zusammenhang mit dem Gesetzentwurf auch aufkam, bedenkt und einordnet:

Die Ex-Post-Triage wird von einer herrschenden Meinung innerhalb der Rechtswissenschaft als Totschlag gewertet. Namhafte Intensivmediziner*innen setzen sich dessen ungeachtet bis heute für eine solche Regelung ein. In der Anhörung des Gesundheitsausschuss zum Triage-Gesetzentwurf am 19. Oktober 2022 wurde das erneut überdeutlich. Dort äußerte sich die organisierte Ärzt*innenschaft geschlossen dahingehend. Sie argumentierten, die relative Erfolgsaussicht einer Behandlung bei Patient*innen mit einiger Sicherheit nur beurteilen zu können, wenn sie über längere Zeit versorgt werden. Das mag sein – macht aber umso deutlicher, worauf die Orientierung an der „aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit“ grundsätzlich zielt: Das Überleben der in der Situation fittesten Personen zu sichern. Die Anwendung der Ex-Post-Triage wäre lediglich eine konsequente Umsetzung dieses Ansatzes. Prinzipiell unterscheidet sie sich aber nicht von anderen Auswahlverfahren, die sich an der Überlebenswahrscheinlichkeit von Patient*innen orientieren. Sie alle sind ein Einfallstor für die Benachteiligung behinderter Menschen.

Auch die Änderungen am Gesetzentwurf sind bei weitem nicht ausreichend. So soll die Regelung evaluiert werden – was wir grundsätzlich natürlich begrüßen –, aber mit einer Frist bis Ende 2025. In dieser Wahlperiode werden also keine Konsequenzen mehr aus den Ergebnissen gezogen. Außerdem wird die Evaluation unter Federführung des Bundesgesundheitsministeriums stattfinden. Damit ist zu befürchten, dass weiterhin die gesundheitspolitische Perspektive überwiegt und kein Fokus auf die strukturell diskriminierende Wirkung der Regelung gelegt wird.

Die Unantastbarkeit der menschlichen Würde ist die oberste Maxime unserer Verfassung. Sie verbietet es, Leben gegen Leben abzuwägen. Unsere Geschichte sollte uns mahnen und verpflichten, den Wert jedes einzelnen menschlichen Lebens niemals zu relativieren. Das ist umso bedeutender, wenn man sich die prekäre Lage unseres neoliberal-ökonomisierten Gesundheitswesen vor Augen führt, das auf Einsparung, Profit und Effizienz getrimmt ist – während es gleichzeitig im Zuge des demographischen Wandels immer mehr hochbetagte, nicht mehr „leistungsfähige“ Menschen geben wird. Angesichts dessen, sollten wir uns davor hüten, das „Überleben des Stärkeren“ in Gesetzesform zu gießen und eine der wesentlichen Grundfesten unserer Demokratie in Frage zu stellen.

Deshalb stimmen wir dem Gesetzentwurf zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes nicht zu.

Aus unserer Sicht ist ein parlamentarischer Prozess nötig, der nicht auf eine medizinische Fragestellung verengt ist, sondern die ethische und verfassungsrechtliche Dimension angemessen würdigt, die wirksame Partizipation behinderter Menschen gewährleistet und zu einem Ergebnis führt, das auf der Grundlage unseres Grundgesetzes breit getragen werden kann.

Corinna Rüffer, Stephanie Aeffner, Frank Bsirske, Beate Müller-Gemmeke, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn und Tina Winklmann

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